Objektnummer: #601
Paris 1798/1809 und Augsburg 1811
Henri Auguste und Johann Georg Christoph Neuss
Beschauzeichen: “Pyr” unter “W” für Augsburg, Periode 1811/12 (Seling Nr. 3000); für Paris Ende 1794-97 (bis ca. 1840 ausgeführt) die sog. Garantie der Zunft für den Feingehalt 958/1000.
Meisterzeichen: “NEUS” in längstovalem für Johann Georg Christoph Neuss (Seling Nr. 2665h); „HA“ in einem rautenförmigen Schild mit zwei Wolfköpfe für Henri Auguste (Dictionnaire des poinçons de fabricants d’ouvrages d’or et d’argent, Paris 1798-1838, Nr. 1381)
Paar Pariser Terrinen: Höhe 31 cm (12,2 in.); Gewicht: je 2.870 g.
Augsburger Terrine: Höhe 46,5 cm (183,07 in.); Gewicht: 6.050 g.
Provenienz: Wappen Ernst August I., König von Hannover, Herzog von Braunschweig-Lüneburg, 1. Herzog von Cumberland und Teviotdale und Earl of Armagh (1771-1851), seit 1837 regierender König von Hannover – Welfen Haus.
Ausst.: Die öffentlichen Tafel: Tafelzeremoniell 1300-1900, im Deutschen Historischen Museum, Berlin, 29. November 2002-März 2003.
Das Paar kleinerer, runder Silberterrinen wurden 1798/1809 in Paris von Henri Auguste, einer der führenden Silberschmiede in Paris, hergestellt. Die große, ovale Silberterrine auf dem Untersatz wurde in Augsburg 1811 von Johann Georg Christoph Neuss gearbeitet.
Alle drei Terrinen entsprechen bezüglich ihrer Form antiken griechischen und römischen Vasen, insbesondere erinnern sie an die Form eines sog. Kantharos. Alle drei Terrinen zeigen sehr schöne Proportionen. Ein gegossenes Wappen des Hauses Braunschweig-Lüneburg ist vorne auf dem Deckel aller drei Terrinen angebracht. Alle drei Terrinen haben einen abnehmbaren Einsatz aus Silber, innen vergoldet.
Die zwei, französischen Terrinen stehen auf hohem, rundem und mit einem Godronenfries dekorierten Fuß. Die Schnürung zwischen Fußschaft und Körper des Gefäßes ist mit einem Ring von reliefierten und stilisierten Blumen und Palmetten geschmückt. Der Körper ist rund und glatt belassen. Ein dekorativer Fries von aufgesetzten, naturalistischen Motiven schmückt den Rand der Terrine. Zwei kurze, ohrenförmige, gegossene Henkel sind seitlich angebracht. Der Deckel der Terrine ist flach, glatt belassen und als Deckelbekrönung dient eine skulpturale Komposition von zwei gegossenen Schnecken, die einen Knoten formen.
Die größere Terrine weist eine nahezu ähnliche Form zu den zwei etwas früheren runden Terrinen aus; sie hat eine imposante Größe und Ausführung. Sie steht auf einem großen, ovalen Untersatz mit vier, gegossenen Löwenfüßchen. Der Rand des Standes ist mit einem Fries von Godronen und auf dessen oberem Teil mit einem Fries von Blumen und Palmetten geschmückt. Der breite, ovale, hohe Fuß ist ebenfalls mit einem Godronenfries dekoriert. Alle anderen dekorativen Elemente sind ähnlich wie bei den zwei vorherigen Terrinen. Leichte Unterschiede bestehen bezüglich des Deckels, der bei der Neuss Terrine stärker gewölbt ist, ferner sind die seitlichen Henkel proportionsbedingt größer.
Das Design dieser Terrinen bezieht sich höchstwahrscheinlich auf den französischen Künstler Jean-Guillaume Moitte (1746-1810). Der Bildhauer Jean-Guillaume Moitte war auch in der Werkstatt von Henri Auguste tätig, für welchen Moitte zahlreiche Zeichnungen entworfen hat. Für seine Kreationen der Silberschmiedekunst erwarb Jean-Guillaume Moitte einen internationalen Ruf. Typisch für seine Entwürfe sind insbesondere die Löwenfüßchen sowie die Schnecken, die einen Knoten formen. Die meisten seiner Zeichnungen für silberne Gegenstände blieben in der Werkstatt von Auguste und wurden im Jahr 1810 vom Goldschmied Jean-Baptiste-Claude Odiot erworben.
Der bemerkenswerte Einfluss des Klassizismus in der Silberschmiedekunst wurde seit 1770 deutlich. Dieser Stil war komplett unterschiedlich zum Rokoko. Für diesen neuen kühlen, strikten, distanzierten und intellektuellen Stil haben die Gold- und Silberschmiede des Klassizismus ihre Inspiration für Ornamente aus Vorlagebüchern der Architektur und aus Archäologiebüchern (über Vasen und Fresken beispielsweise) gezogen.
Maßgeblich für die Veröffentlichung von Vorlagebüchern für die Silberschmiedekunst in Frankreich sind Charles Percier und Pierre François L. Fontaine, die im Jahr 1801 ein Album mit Tafeln von dekorativen Motiven veröffentlicht haben. In 1812 wurden diese Tafeln wieder publiziert, diesmal von Text begleitet. Reliefierte, gegossene, aufgesetzte Teile sind sehr typisch für diese Periode des Klassizismus, bzw. des Empire – und zwar der ersten Periode des Empire, zwischen 1804-1814.
Alle drei Terrinen tragen das Wappen des Hauses Braunschweig-Lüneburg. Hannover war 1803-1811 von Frankreich besetzt und daher ist durchaus anzunehmen, dass die Terrinen nach der Befreiung und in Vorbereitung auf die Hochzeit Ernst Augusts mit Friederike von Mecklenburg-Strelitz im Jahr 1815 erworben und mit dem Wappen versehen wurden.
Die drei Terrinen in klassizistischem Stil sind ein typisches Beispiel dafür, dass die königlichen und fürstlichen Häuser bei den unterschiedlichen Silberschmieden Europas gleichzeitig ihre Aufträge verteilten. König Georg III. von England (1738-1820), Vater von Ernst August, hat außerdem sein Silberservice, ein sehr wichtiges Ensemble des Frühklassizismus, von Robert-Joseph Auguste in Paris und Franz Peter Bundsen in Hannover am Ende des 18. Jahrhunderts anfertigen lassen. Der Silberbesitz des hannoverschen Hofes war einer der umfangreichsten in Deutschland. Diese bedeutenden Silberschätze der Welfen lassen sich auch durch die Silberbergwerke des Harzes erklären. Noch am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Tafelservice aus Silber wichtige Teile der königlichen, adeligen und repräsentativen Macht.
Meister: Henri August wurde am 18. März 1759 als einziger Sohn des Hofgoldschmiedes Robert-Josef Auguste geboren. Ab 1784/85 hat er auch Aufträge für Louis XVI. und später auch für Napoleon übernommen. Auguste war ein führender Silberschmied des Klassizismus und Empire und seine Konkurrenten waren Jean-Baptiste-Claude Odiot und Martin-Guillaume Biennais.
Johann Georg Christoph Neuss ist 1774 geboren (evangelisch) und wurde 1803 Meister. Er war 1825-28 Geschaumeister; 1833 und 1834 war er Vorgeher. Er starb 1857. Seine Werkstatt hat weiterhin Objekte bis 1864 produziert. Joh. Georg Chr. Neuss hat das königliche Service ergänzt (vgl. Seling 3090 g, Abb. 1096). Seine Werke befinden sich z.B. in der Silberkammer der Münchner Residenz, in St.-Anna in Augsburg, und in Kestner Museum, Hannover.